Mit dem angegebenen Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht ein vorläufiges i-Tüpfelchen auf die Bemühungen des Gesetzgebers angebracht, die Regelungen der Vermögensabschöpfung (genauer: Art. 316h EGStGB) auch rückwirkend auf 30 Jahre zurückliegende Sachverhalte anzuwenden, die nach bis zum 1. Juli 2017 geltender Rechtslage strafrechtlich und vermögenseinziehungsrechtlich bereits verjährt waren. Die Verfassungsrichter hatten dagegen keine Bedenken.

Zwar liege eine echte Rückwirkung vor, vor der der Bürger an sich aus Gründen der Rechtssicherheit geschützt werden solle. Aber überragende Gründe des Allgemeinwohls würden das notwendig machen. Schließlich handele es sich ja nicht um eine Nebenstrafe, sondern nur um die Entziehung unredlich erworbenen Vermögens. Auf den ersten Blick alles einzusehen. In der Theorie.

In der Praxis nicht. Vermögensabschöpfung geht schon im Regelfall weit über eine Entziehung unredlich erlangter Gewinne hinaus. Gerade kommt dazu bei uns ein rechtskräftig entschiedener Fall neu auf den Tisch: Ein Arzt zahlt strafbar Provisionen an ihm Patienten zuweisende Berufskollegen i.H.v. 50.000 € insgesamt aus, macht sich dabei wegen Korruption strafbar. Abgeschöpft aus seinem Vermögen werden 2 Mio. €, obwohl die von ihm abgerechnete, eigene ärztliche Leistung im Übrigen unanfechtbar sinnvoll und einwandfrei erbracht und abgerechnet worden war. Abschöpfung nur Nebenfolge, nur der Gewinn abgeschöpft?

Bei Vermögensstraftaten tritt eine Verjährung für die Strafverfolgung nach 5 oder äußerstenfalls 10 Jahren ein. 19 Jahre danach sollen noch die erlangten Vermögenswerte daraus feststellbar sein und abgeschöpft werden können? Soll das ausdrücklich auch für bereits festsetzungsverjährte Steueransprüche gelten?

Es wird Wertungswidersprüche noch und noch geben. Man einigt sich mit der Steuerbehörde und danach konterkariert die Vermögensabschöpfungsentscheidung der Strafverfolgung alles wieder. Die Staatsanwaltschaften werden personell völlig überfordert werden, nehmen sie die gesetzgeberischen Befehle ernst. Ignorieren sie sie, droht Strafverfolgung wegen Strafvereitelung im Amt, die unterlassene Einziehung ist der unterlassenen Strafverfolgung gleichgestellt.

Einziehungsverfolgung wird bei Altfällen wahrscheinlich beliebig werden. Am einen Ort ja, am anderen nein. Im einen Fall ja, im anderen nein.

Irgendwann wird der Gesetzgeber wohl die Verjährung der Einziehungsvorschriften wieder an die Verjährung (nicht etwa: die Verfolgbarkeit) der Strafvorschriften selbst koppeln. Das vielleicht aber erst nach Erledigung der letzten Cum-Ex-Fälle.

Man hätte sich mehr vom Bundesverfassungsgericht gewünscht, vor allem nicht eine 161 Textziffern lange Entscheidung, die nur auf den letzten zwölf Textziffern und zwei DINA4 Seiten Länge subsumiert, ohne dabei absehbar auftretende Spannungsverhältnisse von Grundrechten ernsthaft gegeneinander abzuwägen.

Irgendwie scheint dem einfachen Rechtsanwender, als sei die Entscheidung für das Bundesverfassungsgericht in ihren konkreten Auswirkungen nicht übermäßig wichtig gewesen zu sein. Viel Herleitung, viel Theoretisches, wenig zu den Spannungsverhältnissen der Grundrechte und den absehbaren Konsequenzen.

Dr. Ingo Minoggio