Haben auch (mutmaßliche) Mörder ein Anrecht auf Rechtsfrieden? Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 31.10.2023 (Az.: 2 BvR 900/22) diese Frage bejaht und den 2021 eingeführten § 326 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig erklärt.

Ist ein Angeklagter rechtskräftig freigesprochen worden, darf er nicht wegen derselben Tat erneut angeklagt und verurteilt werden („ne bis in idem“). Dieser Grundsatz ist in Art. 103 Abs. 3 GG festgeschrieben. Nur bei schweren Verfahrensfehlern oder nachträglichem Geständnis des  Freigesprochenen ist eine Wiederaufnahme zu seinen Ungunsten möglich. Wer einmal rechtskräftig freigesprochen wurde, soll nicht sein Leben lang mit der Angst leben müssen, dass er jederzeit erneut vor Gericht gestellt wird. Er hat einen Anspruch darauf, nach der Entscheidung eines Gerichts auf dessen Geltung zu vertrauen.

Mit dem „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ vom 21.12.2021 (BGBl I S. 5252) wurde § 326 StPO ein fünfter Wiederaufnahmegrund hinzugefügt. Dieser erlaubte die Wiederaufnahme zu Ungunsten eines Freigesprochenen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die eine Verurteilung wahrscheinlich machen. Der Anwendungsbereich war eng begrenzt auf Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Der Gesetzgeber hat in diesen Fällen das Rechtsempfinden der Allgemeinheit über das Recht des Einzelnen gestellt.

Das Bundesverfassungsgericht hat § 326 Nr. 5 StPO nun wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG für verfassungswidrig erklärt. Das Recht des Einzelnen wiege schwerer als das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Allerdings war auch das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage uneins. Von acht Verfassungsrichtern waren zwei anderer Meinung und haben dies in einem ausführlichen obiter dictum (abweichende Meinung) begründet.

Sicherlich keine leichte Entscheidung. Aber eine Richtige. Die Rechte des von Strafverfolgung Betroffenen dürfen nicht einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden oder der Schaffung einer vermeintlichen „materiellen Gerechtigkeit“ untergeordnet werden.

Einen „Freispruch unter Vorbehalt neuer Erkenntnisse“ darf es nicht geben.

Ingo Minoggio, Peter Wehn, Barbara Bischoff