Hiervor müssen Steuerpflichtige und Berater eindringlich gewarnt werden. Wir erleben in der Praxis der Steuerstrafverteidigung bei mehreren Beschuldigten leider vermehrt folgende Konstellationen.

Das Praxisproblem:

Es laufen steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren nicht nur gegen einen, sondern gegen mehrere Verantwortliche. Diese Konstellation stellt im Steuerstrafverfahren wie im Wirtschaftsstrafverfahren allgemein eher die Regel als die Ausnahme dar. So beispielsweise bei einer aus mehreren Personen bestehenden Geschäftsführung in einem Unternehmen, dem Prüfer oder Steuerfahndung vorsätzlich falsche Angaben bei Steuererklärungen vorwerfen. Oder etwa in der Konstellation, in dem ein Unternehmen veräußert wurde und danach der Verdacht einer zu geringen Umsatzverbuchung sowohl den mittlerweile ausgeschiedenen Betriebsinhaber und den jetzigen Verantwortlichen trifft. Steuerfahndungsmaßnahmen können in diesen Fällen bekanntlich im Ergebnis die zwölf letzten Veranlagungsjahre betreffen, zuweilen auch noch länger zurückreichen.

Bei den meisten Staatsanwaltschaften und Strafsachenfinanzämtern bzw. Steuerfahndungsstellen werden in derartigen Konstellationen für jeden Beschuldigten einzelne Verfahrensakten angelegt. Das im Ansatz nicht ganz falsche Argument dafür ist, dass auch bei mehreren Beschuldigten die Besteuerungsmerkmale jeweils dem Steuergeheimnis nach § 30 AO unterfallen und deshalb der eine Beschuldigte und seine Berater nicht die gesamte Besteuerungslage des anderen Beschuldigten erfahren dürfen. Deshalb erhält auch der Verteidiger des einen Beschuldigten nur Akteneinsicht in dessen Verfahrensakte und die Beweismittel und der Verteidiger des anderen eben nur in die Vorgänge, die zur Verfahrensakte seines Mandanten gegeben wurden.

Faktische Handhabung bei den Behörden

So weit, so gut. Aber diese Verfahrensweise stellt nur die halbe Wahrheit dar und sammelt nicht selten pro Beschuldigten nur die sie jeweils belastenden Indiztatsachen. § 30 AO darf nach herrschender Rechtsprechung und Literatur nämlich in derartigen Konstellationen nur eingeschränkt angewendet werden. Die Vorschrift darf nicht dazu führen, dass entlastende Ermittlungsergebnisse, die den einen Beschuldigten betreffen, nur in einer für diesen unzugänglichen Verfahrensakte oder den Beweismitteln des anderen Beschuldigten landen. So aber wird im Regelfall verfahren und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte diese Vorgehensweise bewusst oder unbewusst bei der einen oder anderen Strafverfolgungsbehörde Methode.

Beispiele hierfür sind schnell gefunden: Der eine Gastwirt steht im Verdacht, Umsätze in den Jahren 2013-2017 unverbucht gelassen und so Steuern verkürzt zu haben. Im Januar 2018 hatte er seinen Betrieb an seinen Nachfolger veräußert. Gegen diesen wird ebenfalls ein Steuerstrafverfahren für die Zeiträume ab 2018 geführt, weil auch dessen Umsatz nach Auffassung der Steuerfahndung nicht zum verbuchten Wareneinkauf passt. Immerhin aber hatte der übernehmende Gastwirt höhere Umsätze erzielt als sein Vorgänger. Das wiederum wird von der Steuerfahndung als belastendes Indiz gegen den Vorgänger ausführlich per Vermerk zu dessen Akte niedergelegt. Was dabei verschwiegen wird: Der Nachfolger hatte in seinem Steuerstrafverfahren ausführlich und mit plausiblen Fakten dargestellt, warum der Umsatz nach seiner Betriebsübernahme angestiegen ist (etwa durch Einstellung von Personal, umsatzsteigernde Investitionen, oftmals einfach auch „neue Besen kehren gut“). Dieses Schreiben aber findet sich nicht in der Verfahrensakte des Vorgängers. Es hätte für diesen erheblich entlastenden Charakter. Gleichwohl findet man es bei einer Akteneinsicht in dessen Akten nicht nur nicht, man weiß als Berater ohne einen Austausch mit dem Berater des späteren Betriebsinhabers überhaupt nicht, dass es eine solche Argumentation und dass es derartige Fakten überhaupt gibt.

Oder es tauchen bei einer Geschäftsführung aus drei Verantwortlichen Unterlagen auf – möglicherweise auch eine Äußerung einer der Verantwortlichen -, die belegen, dass einer Person die Ressortverantwortlichkeit für eine bestimmte Steuererklärung zugekommen ist, und nicht den beiden sonstigen Verantwortlichen. Natürlich gehörten Abschriften dieser Unterlagen auch zu den Akten der übrigen Beschuldigten. Nur findet man in vielen Fällen auch diese Unterlagen ausschließlich bei demjenigen Beschuldigten und in dessen Verfahrensakten, bei dem die Unterlagen und Ausführungen belastenden Charakter tragen, nicht aber in den Verfahrensakten der anderen.

Die Rechtslage

Strafverfahrensrechtlich und steuerverfahrensrechtlich ist eine derartige Handhabung deutlich rechtswidrig:

Alle Steuerbehörden und alle Strafverfolgungsbehörden in Deutschland sind rechtlich verpflichtet, nicht nur belastende Ermittlungen zu führen, sondern ihr Auge in gleicher Weise auf entlastende Umstände zu richten. Diese müssen genauso akribisch wie Belastungstatsachen in der Akte festgehalten werden, die Beweismittel hierzu müssen gesichert werden. Das sehen praktisch alle gesetzlichen Vorschriften eindeutig vor. Es gibt daher keinerlei Auswahlermessen von Strafverfolgungs- oder Besteuerungsbehörde, nur belastende Tatsachen zur Verfahrensakte eines Beschuldigten zu nehmen und nur belastende Beweismittel zu sichern.

Beschuldigter und Steuerbürger sowie dessen Berater und Verteidiger haben ferner spätestens mit Abschluss der Ermittlungen einen uneingeschränkten Anspruch darauf, sämtliche Tatsachen und Beweismittel zu kennen, die für Besteuerungsverfahren und Strafverfahren gegen ihn eine Rolle spielen können. Das sind in gleicher Weise auch die entlastenden Tatsachen und Beweismittel, die man als Behörde kennt und die möglicherweise in Verfahrensakten anderer Beteiligter „schlummern“. Deshalb erstreckt sich das steuerverfahrensrechtliche und das strafverfahrensrechtliche Akteneinsichtsrecht auch auf derartige Ermittlungsergebnisse unabhängig davon, in welcher Drittakte oder an welchem Ort ohne Aufnahme in eine Akte (auch diese Fälle kommen zuweilen vor) sich diese Ermittlungsergebnisse befinden. (Für das Strafverfahren vergleiche nur BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 – 3 StR 89/09 – , OLG Rostock, Beschluss vom 07. Juli 2015 – 20 VAs 2/15 –; für das Besteuerungsverfahren BFH, Beschluss vom 28. Februar 2020 – X B 100/19). Dass in derartigen Konstellationen das Steuergeheimnis nicht hindert, auch nach § 30 AO steuerlich relevante Daten des einen nicht vor dem Akteneinsichtsrecht des anderen zu schützen, ist im BFH-Beschluss vom 29. August 2012 – X S 5/12 (PKH) – Rn. 12, BFH, Urteil vom 26. Januar 2012 – VII R 4/11 – Rn. 16 ff. und BFH, Urteil vom 10. Februar 1987 – VII R 77/84 –, juris Rn. 15 ff. sogar ausdrücklich festgehalten.

Was tun als Berater in derartigen Konstellation?

Natürlich die eigenen Verfahrensakten des Mandanten und die Beweismittel sorgfältig auswerten. Ein Gefühl dafür entwickeln, welche entlastenden Ermittlungen es gegeben haben könnte oder gegeben haben müsste. Austausch mit den Beratern der anderen Beschuldigten (nicht mit den Beschuldigten selbst, das kann als Verdunkelungshandlung ausgelegt werden). Das ist auch bei Interessengegensätzen zwischen den Beschuldigten ohne weiteres möglich und wichtig. Gegebenenfalls sogar ausdrückliche Entbindungen der Beschuldigten untereinander vom Steuergeheimnis gegenüber der Behörde. So kann dem oftmals einer Akteneinsicht entgegengebrachte Argument „kann nicht gewährt werden wegen Steuergeheimnis“ vollständig der Boden entzogen werden.

Derlei Bemühungen sind zentral wichtig. Ansonsten stellt man fest, dass bei Verfahren mit mehreren Beschuldigten die Strafverfolgungsbehörde zwar alles weiß, belastende Indiztatsachen aber beliebig von Akte zu Akte austauscht und entlastende Ermittlungsergebnisse möglichst wenig Beschuldigten und Verteidigern bekannt gibt. Das geschieht sicher nicht in jedem Fall, aber immer wieder in viel zu vielen Fällen.

Ingo Minoggio, Peter Wehn, Barbara Bischoff