in: Strafverteidiger (StV) 1993, Seite 648
Anmerkungen zu Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes 2 BvR 1121/92, betreffend eine selbst mit Erfolg eingelegte Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung einer Pflichtverteidigerbestellung im Strafverfahren.


BVerfGG § 34 a Abs. 3; StPO § 140 Abs. 2
Erstattung notwendiger Auslagen einer Verfassungsbeschwerde gegen Nichtbeiordnung eines Pflichtverteidigers

abgedruckt in: Strafverteidiger 12/1993, S. 647 – 649
Erledigt sich eine wegen Nichtbeiordnung eines Pflichtverteidigers erhobene Verfassungsbeschwerde dadurch, dass während des laufenden Verfahrens dem mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehren nachgekommen wird, sind die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
BVerfG, Beschl. vom 29.01.1993 – 2 BvR 1121/92 (2. Kammer)

Aus den Gründen:
1.
Dem Bf. sind seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren in vollem Umfang zu erstatten.

a)
Über die Erstattung der Auslagen ist, nachdem der Bf. seine Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt hat, nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden (§ 34 a Abs. 3 BVerfGG). Dabei kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt oder hilft sie der Beschwer auf andere Weise ab, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Bf. selbst für berechtigt erachtet hat. In diesem Fall ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Bf. die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 [115]; BVerfG, Beschl. V. 24.11.1992 -2 BvR 2033/89-, Umdruck S. 5).

b)
Die Verfassungsbeschwerde hat hier den Anstoß dafür gegeben, dass dem Bf. vor der nach Ablehnung der Sachverständigen durchzuführenden neuen Hauptverhandlung durch Beschluss des AG Lüdinghausen vom 05.10.1992 ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Da der Bf. sonach sein Rechtsschutzziel jedenfalls im praktischen Ergebnis erreicht hat, erscheint es im vorliegenden Fall billig, die Auslagenerstattung anzuordnen.
Mitgeteilt von RA Ingo Minoggio, Hamm.

Anmerkungen von Rechtsanwalt Minoggio , Hamm

Der vorstehend abgedruckte Kosten-beschluss des BVerfG stellt aus Sicht des Strafverteidigers einen erfreulichen Schluss-punkt nach einer unerfreulichen Aus-einandersetzung zwischen Verteidigung und Instanzgerichten um die Ablehnung einer Pflichtverteidigerbestellung dar. Um ihn zu verstehen, muss der vorausgegangene Instanzenzug dargestellt werden:
Gegen einen bis dato nicht nur unbescholtenen, sondern hoch angesehenen Beschuldigten erhob die zuständige Staatsanwaltschaft Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, § 176 StGB. Im Raum stand der von der einzigen Belastungszeugin erhobene Vorwurf, über einen längeren Zeitraum an ihr sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben.
Allein die Anklageerhebung hatte für den Beschuldigten eine verheerende, aber eben nicht vermeidbare Schädigung seines persönlichen Ansehens zu Folge, und auch deutliche wirtschaftliche Auswirkungen. Wenngleich im Fall der Erweislichkeit der Vorwürfe keine Haftstrafe ohne Bewährung im Raum stand, so musste jede Verurteilung an sich schon für den weiteren Lebensweg des Angeklagten eine einschneidende negative Wirkung haben, und auch jahrelange Aufbauarbeit im karitativen Bereich zerstören. Unter Hinweis auf diese, sich auch aus der Akte selbst ergebenden Umstände beantragte die Verteidigung nach Anklageerhebung ihre Beiordnung als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO, zumal auch die Einkommensverhältnisse des Angeklagten äußerst begrenzt waren und man sich bereits im Ermittlungsverfahren mit Glaubwürdigkeitsgutachten und sich widersprechenden Zeugenaussagen auseinander zu setzen hatte. Das Amtsgericht lehnte die Pflichtverteidigerbeiordnung ab, und zwar unter ausschließlicher Nennung des kompletten Gesetzeswortlautes des § 140 Abs. 2 StPO als einziger „Begründung“ (!). Die Verteidigung war sich sicher, dass dieser Beschluss nicht haltbar sein konnte, zumal noch ohne jede Begründung ergangen. Es entspricht gefestigter Rechtsauffassung in Literatur und Rechtsprechung, dass die bloße Nennung des Gesetzeswortlautes nicht der Begründungspflicht des § 34 StPO genügt (statt vieler: KK-Maul, § 34, Rdnr. 5 m. w. N.) Also wurde Beschwerde eingelegt, die vom zuständigen LG Münster (Beschl. V. 25.05.1992 Az. 7 Qs 17/92 I) zurückgewiesen wurde mit der einzigen Begründung in Form eines Verweises auf die angeblich „zutreffende Begründung“ des angefochtenen amtsrichterlichen Beschlusses (!).
Die Verteidigung erhob beim LG gegen diesen Beschluss Gegenvorstellung (vgl. § 33 a StPO), die zunächst drei Wochen lang überhaupt nicht beschieden wurde. Dann wurde Verfassungsbeschwerde gegen die Pflichtverteidigerversagung erhoben. Das LG wies kurz danach die Gegenvorstellung zurück, allerdings diesmal mit einer zwar unzutreffenden, aber wenigstens überhaupt den Einzelfall erörternden Begründung.
Zwischenzeitlich hatte das AG auch noch der einzigen Belastungszeugin auf ihren Antrag hin die sie vertretende Rechtsanwältin gemäß § 379 a StPO im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet, sich aber auch nach neuerlichem Antrag der Verteidigung nicht veranlasst gesehen, entsprechend der vom Gesetzgeber vorgesehenen Wertung in § 140 Abs. 2 letzter Halbsatz StPO dem Angeklagten wenigstens jetzt aus dem Gebot der Waffengleichheit heraus den Pflicht-verteidiger beizuordnen (… „bestellt der Vorsitzende … einen Verteidiger … namentlich weil dem Verletzten nach § 397 a StPO … ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist.“).
Nach etwa drei Monaten Anhängigkeit der Verfassungsbeschwerde ordnete das AG plötzlich ohne erneuten Antrag den Pflichtverteidiger doch bei, wiederum ohne Begründung. Einige Tage später erreichte die Verteidigung die telefonische Anfrage eines wissenschaftlichen Mitarbeiters des BVerfG, ob die Verfassungsbeschwerde wegen zwischenzeitlicher Erledigung zurückgenommen werde. Es bedarf wohl keiner hellseherischer Fähigkeiten, um davon auszugehen, dass den Instanzgerichten vom BVerfG eine vorläufige Einschätzung der dort vorherrschenden Rechtsauffassung mitgeteilt worden war, dass nämlich der Verfassungsbeschwerde stattgegeben werden könnte.
Die Verteidigung nahm daraufhin die Verfassungsbeschwerde nicht zurück, sondern erklärte sie in der Sache selbst für erledigt und beantragte, die Kosten-erstattungspflicht des beteiligten Landes als Träger der Instanzgerichte gem. § 34 a Abs. 3 BVerfGG festzustellen.
Mit dem vorstehend abgedruckten Beschluss gab das BVerfG diesem Begehren statt und ordnete Kostenerstattung durch das Land an.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist hierdurch wahrlich kein bedeutender Sieg errungen. Die vielfach durchgeführten und auf der Hand liegenden Berechnungen zum Missverhältnis von Zeitaufwand und Gebühren nach den §§ 97, 83 BRAGO sowie die extreme Zurückhaltung der Oberlandesgerichtes bei der Bewilligung von Pauschgebühren nach § 99 BRAGO sind bekannt und sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden.
Gleichwohl hat sich der Kampf aus Sicht des Beschuldigten und auch der Verteidigung gelohnt. Der Beschluss des BVerfG sollte als Ermutigung dienen, immer wieder gegen die leider noch gängige Spruchpraxis der Instanzgerichte und insbesondere der Amtsgerichte bei der Frage von Pflichtverteidigerbestellungen nach § 140 Abs. 2 StPO anzugehen. Es ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, wenn einerseits in einem Zivilrechtsstreit einer bedürftigen Partei für jedes noch so unwichtige Zivilverfahren Prozesskostenhilfe vielerorts formelhaft bewilligt, dem Beschuldigten oder Angeklagten in einem Strafverfahren aber ein Pflichtverteidiger und damit gleichzeitig auch das für seine Verteidigung elementare Aktenein-sichtsrecht verweigert wird, weil er vielleicht „nur“ eine Haftstrafe von einem Jahr zu erwarten hat, die unter Umständen ja auch noch zur Bewährung ausgesetzt werden könnte (vgl. die restriktive Spruchpraxis der Instanzgerichte, zusammengestellt in der Entscheidung OLG Karlsruhe StV 1992, 313).
Dies umso mehr, als das ab 01.03.1993 in Kraft getretene Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege die Strafgewalt und damit den Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich der Amtsgerichte erheblich ausweitet.
Sowohl Tenor als auch Begründung des mitgeteilten Beschlusses sprechen nach Meinung des Verfassers jedenfalls deutlich dafür, dass man die angegriffenen Beschlüsse des Amts- und Landgerichts als grundrechtswidrig angesehen hat – stellt doch das BVerfG ausdrücklich darauf ab, dass die öffentliche Gewalt ihrer Auffassung nach wegen der freiwilligen Abhilfe selbst davon ausgegangen ist, das Begehren des Beschwerdeführers sei berechtigt gewesen, und erst die Verfassungsbeschwerde habe den Anstoß dafür gegeben, dass dem Angeklagten letztendlich doch noch ein Pflichtverteidiger bestellt wurde.
Vielleicht kann im Einzelfall durch Anrufung des BVerfG erreicht werden, dass die Instanzgerichte bei der Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO der Rechtsstellung des Beschuldigten und damit gleichzeitig dem Rechtsstaatsprinzip zukünftig das not-wendige Gewicht beimessen.